Verein zur Hilfe seelisch Erkrankter im Emsland e.V.

30 Jahre Lotse e.V. - Die Tagesstätte "Kiek ut"


von Jürgen Eden

Lotse hilft der Seele

Tagesstätte „Kiek ut“ setzt auf sinnbringende Tagesstruktur

Papenburg. Seelische Erkrankungen haben viele Facetten. Oft fehlt es Menschen mit psychischer Erkrankung an aus unserer Sicht einfachsten Voraussetzungen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Der Verein Lotse e. V. setzt genau hier an und holt sie mit der Papenburger Tagesstätte „Kiek ut“ aus einer Art Erlahmung und vermittelt mit individuellen Hilfen ein Stück weit Tagesstruktur.

Für uns eigentlich selbstverständlich: Der Tag muss strukturiert sein. Doch bei Menschen mit seelischen Erkrankungen ist es nicht selten, dass sie keinerlei Motivation verspüren, morgens überhaupt aufzustehen um eine Eigenversorgung sicherzustellen. Außerdem fällt es vielen schwer, aufgrund ihrer Depressionen oder Angst- und Wahnzustände das Haus überhaupt zu verlassen.

Einer von ihnen ist der 55-jährige Anton*. Die Schule verließ er in den 1970er-Jahren ohne Abschluss. Eine psychische Vorerkrankung lag damals schon vor. Sie wurde aber mangels ambulanter Hilfen kaum oder nicht ausreichend therapiert. Fast jeder vierte Schulabgänger fand in jener Zeit aufgrund der Babyboomer-Jahre und mangels der schwachen Wirtschaftskraft in der Region keine Ausbildungsstelle. Das galt auch für Anton. Stattdessen versuchte er sein Glück mit verschiedenen Aushilfsjobs in einem Baustoffhandel, einem Bauunternehmen oder einer kleinen Werft. Später folgten einfache Qualifizierungsmaßnahmen durch das damalige Arbeitsamt. Mal bei der Kreishandwerkerschaft, mal auf dem Ökohof. Der Erfolg war immer nur von kurzer Dauer. Immer wieder musste er aufgrund der nicht behandelten psychischen Probleme abbrechen. Es entwickelte sich eine Depression, Ängste und Zwänge folgten. Seine Wohnung verließ er nicht mehr.

Die Tagesstätte ist für ihn ein Glücksfall. „Seitdem er hier ist, öffnet er sich langsam und nimmt am Gruppengeschehen vermehrt teil“, sagt die Sozialarbeiterin Kerstin Lüken. Eine Wiedereingliederung in das Erwerbsleben steht aufgrund der chronifizierten psychischen Erkrankung nicht mehr an.

Anders verhält es sich bei Annegret*. Der Sozialdienst einer Einrichtung hatte den Wechsel zu Lotse empfohlen, da sie sich am Arbeitsplatz überfordert sah. Auch bei ihr entwickelte sich eine Depression. „Anfangs hat sie sehr oft geweint. Sie war sehr unsicher“, erinnert sich Fr. Lüken. In der Gruppe erhält Annegret sehr viel Zuwendung und Anerkennung, da sie sich aktiv in die täglichen Aufgaben der Gruppe einbringt. Dazu gehört beispielsweise der gemeinsame Einkauf, das Zubereiten der Mahlzeiten und das Decken sowie Abräumen des Tisches. „Für viele sind das selbstverständliche Dinge, für Menschen mit diesen Beeinträchtigungen stellen diese Dinge schon unlösbare Probleme dar“, erklärt Frau Lüken. Annegret zeigt sich in der Tagesstätte offen für viele Angebote. Zum Beispiel für die Ergotherapie, Bewegungsspiele und auch handwerkliche Arbeiten in der Werkstatt. Hilfreich sind jedoch auch die Rollenspiele, die der Reflexion aber auch der Persönlichkeitsbildung durch das Einstudieren von Verhaltensweisen in Alltagssituationen dienen. „Ich habe die Hoffnung, dass sie vielleicht mittelfristig eine berufliche Reha-Maßnahme starten kann“, sagt Frau Lüken.

Spricht man mit dem 43-jährigen Andreas*, so sind nicht sofort Anzeichen einer psychischen Erkrankung feststellbar. „Ich komme aus dem Pott, also aus dem Ruhrgebiet“, scherzt er. Seit Geburt lebt er mit Beeinträchtigungen. Dennoch kann er nach eigenen Angaben auf einen lückenlosen Lebenslauf verweisen. So arbeitete er als Bürokaufmann im Gesundheitswesen, bis eine Burnout-Erkrankung sowie chronische Schmerzen ihn zur Aufgabe und Verrentung zwangen. Psychologisch kam es zu Angstzuständen/ Panikattacken. Auslöser war eine Misshandlung mit Drogenbesteck im höchstpersönlichen Lebensbereich. Ausgerechnet eine privat angestellte Pflegeperson verübte diese Straftat an ihm. Dadurch wurde seine Fähigkeit zur Interaktion nachhaltig gestört. Was für viele Menschen das Normalste ist, beispielsweise alleine einkaufen zu gehen, wäre für Andreas nicht mehr möglich. Heute teilt er sich mit einem Mitbewohner eine kleine Wohnung in einer Wohnanlage für betreutes Wohnen. Dort nimmt er aktiv am Leben teil und spielt sogar Keyboard. Im ersten Schritt wird dort versucht, seine Situation zu stabilisieren, um dann in ganz kleinen Schritten mit der Übertragung kleiner Aufgaben, die Selbständigkeit zu erhöhen. Die Hilfen werden jedoch immer den individuellen Bedürfnissen und Zielvorstellungen der Besucher angepasst.

Ziel der Tagesstätte ist der Aufbau einer sinnbringenden Tagesstruktur, die Förderung von Alltagskompetenzen, der Aufbau und die Pflege von sozialen Kontakten und das Erleben von Gemeinschaft. Gelingt das, kann die Vorbereitung auf eine Reha-Maßnahme oder eine Tätigkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereitet werden.

*Namen geändert